Nicholas

Nicholas

Thursday, 20. September 2018 von Henriette

Im Augenblick konnte ich nichts weiter tun als zu warten. So beschloss ich, einen kleinen Spaziergang an der Seine zu machen. Unterwegs rief ich Karnberg an und berichtete ihm über unsere Fortschritte, jedoch — ich weiß nicht genau, warum — verschwieg ich ihm die Details zum Inhalt des Textes. »Die Sprache des Buchs ist elamisch. Es erzählt eine Legende aus dem Alten Orient«, sagte ich nur.

Es war ein kühler Nachmittag, in den Straßen standen noch vereinzelte Pfützen vom letzten Regen, und der leichte Wind tat gut. Was, wenn die Geschichte des Mönchs wahr wäre? Die Legende vom Garten Eden ist eine ferne Erinnerung an eine vergessene Zivilisation, die von der Sintflut vernichtet wurde? Der Weiße Baum von Edena, der Baum des Lebens, hat die Menschen erleuchtet. Aber woher kam dieses Licht?

»Henriette? Henriette Kunrat?« riss mich plötzlich eine Stimme aus meinen Gedanken. Die Stimme gehörte einem dunkelhaarigen, sehr blassen Mann.

»Nicholas! Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist in London.« Nicholas de Montmorency, ein mäßig erfolgreicher freier Journalist, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, geheime Absprachen zwischen Politik und Wirtschaft, illegale Waffengeschäfte und ganz allgemein internationale Verschwörungen zu enthüllen. Ich bin ihm zum ersten Mal vor etwa zehn Jahren während einer Forschungsreise in Baalbek begegnet. Er glaubte damals beweisen zu können, dass Israel die Angriffe gegen die Hisbollah im Zweiten Libanonkrieg mit stillschweigendem Einverständnis der US-Regierung bereits Monate zuvor geplant hatte. Während seiner Recherchen wurde ihm ins linke Bein geschossen — angeblich von einem Agenten des Mossad. Seitdem humpelt er ein wenig.

»Schön, dich zu sehen!« sagte er, drückte mich an sich und küsste mich auf die Wange. »Ich lebe seit einem Jahr wieder in Frankreich. In London … nun ja, sagen wir, ich habe mir dort den Unmut einiger einflussreicher Leute zugezogen … Und du? Was verschlägt dich nach Paris?«

»Das Museum hat mich hergeschickt. Ich soll ein Exponat im Louvre abholen und nach Nürnberg bringen.« Ich erzählte ihm von dem Buch und dem chiffrierten elamischen Text.

»Elamisch? Ich habe da eine gute Freundin, die kann dir vielleicht weiterhelfen!« erwiderte er. »Wie wär’s, gehen wir was trinken, ich stelle dich ihr vor, und du erzähst uns die ganze Geschichte?«

Er witterte wohl schon wieder eine Story. Ich hakte bei ihm unter, und wir machten uns auf den Weg. Für einen kurzen Moment brach die untergehende Sonne durch die Wolken und tauchte die Kathedrale von Notre-Dame in goldenes Licht.

Nach einer kurzen Fahrt mit der Métro und ein paar hundert Metern Fußweg hörte ich bereits aus einer Seitengasse das dumpfe Quäken eines Saxophons, und kurz darauf standen wir in einer engen und lauten Jazzbar. »Das Morvarid, die beste Jazzbar von ganz Paris«, versicherte mir Nicholas. Er führte mich zur Theke, wo eine Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren gerade Gläser abspülte. Sie war wohl eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte. »Salut, Taraneh. Darf ich dir Henriette vorstellen?« rief Nicholas ihr zu und versuchte, die Musik und das Gemurmel zu übertönen. »Sie ist eine alte Freundin aus Deutschland und übersetzt hier am Louvre ein antikes elamisches Buch.«

»Nein, eigentlich soll ich nur … naja …« versuchte ich zu beschwichtigen.

»Salut, Henriette, ich bin Tara. Was willst du trinken?«

Ich bestellte einen großen Kaffee, und wir gesellten uns zu Taraneh an die Theke. »Morvarid, was bedeutet das?«

»Perle«, antwortete Tara. »Das ist Persisch. Eigentlich bedeutet es ›Kind des Lichts‹.«

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